25. 4. – 15. 7. 2023
Galerie Thalberg
Rämistrasse 38
8001 Zürich
Apologie der Malerei
„Aber sie lügen doch alle, selbst die ehrlichsten, geschicktesten unter ihnen, und da es ihnen an Worten und Sätzen fehlt, mit denen sie das Leben umreißen könnten, bilden sie eine gefällige und schwache Darstellung davon ab; andere wiederum (…) erschweren diese Darstellung und belasten sie mit einem feierlichen Ton, der dem Leben fern ist. Und andere dagegen (…) erleichtern das Leben, sie verwandeln es in einen hohlen und hüpfenden Ball, den man leicht fangen und in die schwerelose Welt schießen kann.“
Marguerite Yourcenar
In irgendeinem – selbstverständlich – historischen Zeitpunkt erreichte die Kunst ein Stadium, in dem sie nicht mehr so tun konnte, als ob es ihr gelänge, die Realität nachzuahmen. Stattdessen präsentierte sie die Idee, ihre eigene Realität bilden zu wollen. Diese Idee führte zu solch radikalen Phänomenen wie der Schaffung einer eigenen, von der Realität unabhängigen Sprache, oder in der Malerei zu den ersten Gemälden, die nichts darstellten, was mit der materiellen Welt, die uns umgibt, in Verbindung gebracht werden konnte. Und während die radikalen Anhänger der Autonomie des Gemäldes sich von ihrer Überzeugung hin bis zur ultimativen Gegenstandslosigkeit hatten leiten lassen, wonach sie ihre Pinsel und Farben liegen lassen und der Malerei ein Ende erklären mussten, beharrten hingegen andere, etwas gemäßigtere auf ihrer Überzeugung, dass ein Gemälde nicht nur existieren, sondern auch unter Bedingungen vollständiger Autonomie überleben könne. Für einige führte die frühe Abstraktion zum abstrakten Expressionismus, wie es bei Kandinskys Nachfolgern in der amerikanischen Nachkriegsmalerei der Fall war, während andere geometrische und andere Formen der analytischen Abstraktion weiterentwickelten. Am konsequentesten setzte sich die Idee der autonomen Kunst in der Malerei, der visuellsten aller Kunstformen, durch. Sie wurde von jenen Künstlern als absolute Wahrheit angenommen, die glaubten, dass ein Gemälde sein eigenes Leben hat, das sich in Bezug auf die Elemente abspielt, die es für seine Existenz und sein Überleben benötigt, und zwar künstlerische Elemente: Oberflächen, Farben, Linien sowie Punkte. Indem sie diese Elemente auf der Oberfläche einer Leinwand oder von Papier organisierten, gelangten sie zu den künstlerischen Beziehungen, den einzigen, von denen die Malerei lebt. Mit der Entwicklung der Theorie der Hochmoderne endete auch die damit einhergehende Fortschrittsidee. Die darauffolgende Vorsilbe „post“ implizierte eine neue Frische für die Kunst, die sich in neuen Medien und der Öffnung neuer Forschungsfelder niederschlug. Für die Malerei markierte dieses Präfix jedoch die Zeit zwischen zwei Revolutionen. Der einzige Glaube an den Fortschritt und das Überleben der „reinen“ Malerei wurde jenen Schöpfern überlassen, die dem modernistischen Konzept der Selbstgenügsamkeit treu blieben.
Đorđe Ivačković, einer der Maler, die den Glauben an die Autonomie der Malerei und ihr unabhängiges Leben akzeptierten, studierte zu Beginn der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts Architektur in Belgrad und widmete sich avantgardistischer Jazzmusik. Anfang der 1950er Jahre verließ er Belgrad in Richtung Paris, um dort seine Karriere als Künstler und Maler zu beginnen. Aus Belgrad brachte er erstaunlicherweise eine Faszination für die amerikanische Gegenwartskunst mit, die ihn in Paris in die Kreise jener Maler brachte, die als Vertreter der lyrischen Abstraktion gelten, allerdings mit erheblichen Eigenarten, die gerade diesen unterschiedlichen Einflüssen entstammen.
Die Einordnung von Đorđe Ivačkovićs Werken in den Kontext der lyrischen Abstraktion, wie sein Stil in der Literatur am häufigsten beschrieben wird, geht auf sein Engagement in Künstlerkreisen in Frankreich, d. h. Paris, zurück, wo dieser Begriff seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Bezeichnung für verschiedene Kunstausprägungen sowohl informell, wie auch als Bezeichnung für europäische versus amerikanische Kunst aus der gleichen Zeit verwendet wird. Die Malerei von Đorđe Ivačković wird im Kontext der Pariser Kunstszene seit den 1960er Jahren aufgrund ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit in der Behandlung der bildenden Kunst als lyrische Abstraktion eingestuft, weist jedoch bei genauer Betrachtung erhebliche Unterschiede vor allem in den Fragen der konzeptionellen Grundlagen als auch in der fehlenden Assoziierbarkeit und den Verbindungen mit der stofflichen Welt auf. Die Philosophie des Existentialismus, die hauptsächlich mit den Anfängen der lyrischen Abstraktion verbunden ist, implizierte in der bildenden Kunst die Suche nach Gründen und Ursachen oder den Ausdruck von Konsequenzen – sei es aufgrund nachträglich zugeschriebener oder realer Bedeutungen – während es bei Ivačković weder eine andere Ursache, noch andere Konsequenzen als die grundlegenden malerischen, ausschließlich mit der Forschung im Bereich der Malereifragen zusammenhängenden gibt. Möchte man hingegen isoliert sowohl vom heimischen, als auch Pariser Kontext Parallelen zu seiner Malerei suchen, so findet man diese eher in den Werken amerikanischer Nachkriegsmaler, welche dem abstrakten Expressionismus zuzuordnen sind und auch als Gesten- oder Aktionsmalerei bezeichnet werden. Ivačković selbst offenbart die offensichtlichen Kontakte und seine Vertrautheit mit der hochmodernen amerikanischen Szene in einem Interview, das er Lidija Merenik 1989 für das Magazin Moment gab. Darin hob er die Bedeutung einer Ausstellung zeitgenössischer amerikanischer Malerei hervor, die 1956 und 1957 in Cvijeta Zuzorić stattfand, und zwar nicht nur für seine künstlerische Ausbildung, sondern auch für seinen Wunsch, der Malerei nachzugehen. Die Betonung der Aktion, des Gestischen und Expressiven verbindet Ivačković eher mit De Kooning oder Franz Kline als mit seinen Zeitgenossen in Belgrad oder Paris.
In den Jahren, als Ivačković Belgrad verließ, entwickelte die heimische Kunstszene ihre Modernität noch konformistisch im Rahmen des herrschenden (politischen) Regimes und der ideologischen Situation. Radikale Formen der Abstraktion, die die Auseinandersetzung mit rein künstlerischen Problemen implizieren, deren letzte Konsequenz das Erreichen reiner Gegenstandslosigkeit ist, hatten darin keinen Platz. In Paris, der Stadt, aus der vor dem Krieg alle Avantgardisten kamen, und die auch nach dem Krieg die künstlerische Freiheit förderte, fand Ivačković ein fruchtbares Umfeld für seine Arbeit. Als ausgebildeter Architekt erkannte er kurz nach seinem Abschluss an der Fakultät für Architektur, dass Autonomie der Kunst deren Unabhängigkeit von äußeren Faktoren impliziert, was in der Architektur für das Endergebnis entscheidend ist. In einem Gespräch mit Irina Subotić, das er 1977 anlässlich seiner eigenen Ausstellung in Belgrad führte, sagte er, dass er in der Malerei die Unmittelbarkeit und völlige Unabhängigkeit fand, wo der Weg von der Idee zu ihrem materiellen Ausdruck nur von ihm abhängt.
Im Pariser Umfeld entwickelte sich seine Liebe zur Musik dann zu einer Liebe zur Malerei. Wenn es gelingt, eine Verbindung zwischen diesen verschiedenen Kunstarten herzustellen und einen visuellen Ausdruck für Musik zu finden, wie es Kandinsky, einer der Pioniere der abstrakten Malerei, (wenn auch bewusst) tat, dann könnten auch Ivačkovićs Bilder mit seiner Musik in Verbindung gebracht werden. Und wenn das Fehlen von Assoziationen in seinen Bildern eine Verbindung zu etwas zulassen würde, das nicht in den Bereich des rein Visuellen gehört, dann würden wir in den expressiven, aber nie disharmonischen Strichen seines Pinsels und in der Leichtigkeit der weißen Flächen, auf denen diese Striche verteilt sind, vielleicht eine Ähnlichkeit mit der Freiheit der Musik erkennen, die keine Melodie sucht, sondern sie durch Improvisationen und freie Tonverhältnisse spontan erschafft. Obwohl solche Parallelen als Bedeutungszuschreibung eingestuft werden könnten, ist es genau diese ausdrucksstarke Linie der modernistischen Abstraktion, die Ivačković befürwortet, die heute als einzige eine solche Herangehensweise bei der Erforschung ihrer Quellen zulässt, denn das Element des Unterbewussten kommt am stärksten in jenen Kunstgattungen zum Ausdruck, in denen Ausdruck, Handlung, Gestik und Spontanität am stärksten am schöpferischen Akt beteiligt sind. Schließlich sind all die Bedeutungen, die wir mit den abstrakten Gemälden von Đorđe Ivačković verbinden, für uns einfach ein Rätsel, ein Versuch, das Geheimnis des nur dem Künstler bekannten kreativen Akts zu enthüllen, und ein Streben, das Unbekannte, das uns fasziniert, logisch zu erklären.
Bei der Suche nach Einzigartigkeit und Originalität – die heute nur noch im Rahmen jener Kunst erlaubt ist, die unter dem Vorzeichen der Moderne lebt – und daraufhin bei der Erforschung der unterbewussten oder unbewussten Quellen ihrer Entstehung, ist es legitim, einige a priori vorhandene Bedeutungen anzunehmen (oder zu unterstellen), wie die Möglichkeit, in einem abstrakten Bild den Genius Loci – den Geist des Ortes – zu erkennen.
So lässt sich vielleicht durch die Malerei von Đorđe Ivačković die charakteristische Beharrlichkeit nachvollziehen, die dazu führte, dass jahrzehntelang kein anderer Hintergrund als Weiß auf seinen Leinwänden erschien, oder die Konsequenz, die Gemälde hervorbrachte, die ausnahmslos eine präzise, quadratische Form haben, und die Geduld, mit der selbst auferlegte Kanons respektiert werden, innerhalb derer nur das Auge eines erfahrenen Beobachters einige Züge oder künstlerische Bewegungen als radikal anders als die vorangegangenen erkennen kann. Vielleicht können wir diese Spur sogar bis zur orthodoxen byzantinischen Kunst zurückverfolgen, die in unserer Region überdauerte und tausend Jahre lang ihren eigenen Kanons treu blieb, sich mit internen Themen befasste und sich nur in dem Maße veränderte, in dem sie gelegentlich den Einfluss anderer Menschen zuließ oder interne Veränderungen und Umwälzungen durchlief, die scheinbar unsichtbar, aber tatsächlich so bedeutend sind, dass erfahrene Wissenschaftler, die sie untersucht haben, sie Renaissancen nennen. Gerade in diesem Verhältnis von scheinbar unbedeutenden, aber für den Schöpfer entscheidenden Zügen bestätigt Đorđe Ivačković die Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit seiner Malerei und damit das Leben, die Existenz und das Überleben der Malerei im Allgemeinen.
Ivana Benović
Hinweis:
Der ursprüngliche Text stammt aus dem Jahr 2009 – aus der Zeit von Ivačkovićs kreativem Spätwerk.